Rezension: Der blinde Fleck
- Norbert Opfermann
- vor 1 Tag
- 2 Min. Lesezeit
In "Der blinde Fleck" rücken Lebert und Louis Lewitan die individuellen Lebensgeschichten von Familienmitgliedern im Zweiten Weltkriegs und der Nazizeit in den Fokus. Anhand zahlreicher biografischer Fallbeispiele zeigen sie, welche Geheimnisse in den Familiengeschichten verborgen liegen. Viele dieser Rollen und Motive wurden nie offen gelegt: Scham, Angst vor Tabuisierung oder ein kollektives Vergessen sorgten dafür, dass die Wahrheit im Bann des Schweigens blieb.
Erst nach dem Tod der damaligen Generation wagt die Nachfolgegeneration das genaue Nachfragen: Welche Verstrickungen und Schicksale gab es wirklich? Warum blieb das Thema in der Familie so lange unerwähnt? Lebert und Lewitan begleiten Nachfahren, die alte Briefe, Fotografien oder amtliche Dokumente zum Anlass nahmen, um das wahre Ausmaß ihrer Familiengeschichte aufzudecken.
Psychologe Louis Lewitan, selbst Nachkomme von Schoah-Überlebenden und ausgewiesener Experte für Stressbewältigung, erklärt anschaulich, wie Traumata über Generationen wirken und sich mitunter krankhaft manifestieren können. Obwohl Schoah und Ende des Zweiten Weltkriegs Jahrzehnte zurückliegen und nur noch wenige Zeitzeug:innen leben, hinterlässt deren Vergangenheit bis heute Spuren in den Familien. Geprägt von einer Katastrophe, die die Nachkommen nie selbst erlebt haben, leiden viele an zwischenmenschlicher Kälte, Schuldgefühlen, Ängsten, Einsamkeit und Entwurzelungsgefühlen.
In zahllosen Familien herrscht ein bleiernes Schweigen — verdrängte Erinnerungen, wohlgehütete Geheimnisse und hartnäckige Lügen wirken bis heute wie ein Gift. Doch da die Konfrontation mit der Kriegsgeneration nun entfällt, bricht dieser Panzer auf: Immer mehr Menschen recherchieren ihre Familiengeschichte und spüren nach, wie sich das kollektive Trauma auf ihre eigenen Lebensmuster ausgewirkt hat. Lewitans Expertise gibt dabei wissenschaftliche Einordnungen und praktischen Rat zur Bewältigung dieser psychischen Last.
Der preisgekrönte Journalist Stephan Lebert liefert das handwerkliche Fundament: sorgfältige Recherche, einfühlsame Interviews und authentische Zeitzeugenstimmen. Lewitan steuert die psychologische Analyse bei, die komplexe Zusammenhänge verständlich erklärt. Gemeinsam schaffen sie einen sensiblen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. So wird deutlich, warum der „blinde Fleck“ in vielen Familien erhellt wird – und welche Befreiung es sein kann, ihn zu durchleuchten.
Am Ende des Buches gibt es eine Auswahl wichtiger Archive und Anlaufstellen für weitergehende Recherchen.

Fazit:
Der blinde Fleck ist weit mehr als ein Buch über die Nachwirkungen des Krieges: Es ist ein Aufruf zur aktiven Familienaufklärung und ein wichtiger Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur. Durch den Schwerpunkt auf individuelle Biografien und die fundierte psychologische Einordnung von Louis Lewitan wird erlebbar, wie unbewusste Verstrickungen weitergegeben werden – und wie befreiend es sein kann, sie bewusst zu machen. Für alle, die die wahre Rolle ihrer eigenen Vorfahren in der Nazizeit erkunden und das Schweigen in ihrer Familie brechen möchten, ist dieses Buch eine unentbehrliche Hilfe.
Das Buch ist am 16. April 2025 im Heyne Verlag erschienen und umfasst 384 Seiten. Es ist als gebundene Ausgabe, eBook und Hörbuch erhältlich.
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